Der europäische Gerichtshof hat sich mit Urteil vom 11. Juni 2020 in der Rechtssache C – 88/19 (Presseinformation: https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2020-06/cp200072de.pdf) zum räumlichen Anwendungsbereich des strengen Schutzsystems für bestimmte Tierarten geäußert, das Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (im Folgenden: Habitat-Richtlinie) vorsieht.
Ursprüngliche Ausgangsfrage in diesem Verfahren war, ob die Schutzbestimmungen der Habitat-Richtlinie auch für den Fang von wild lebenden Wölfen am Rand einer Ortschaft oder im Territorium einer Gebietskörperschaft gelten. Eine rumänische Tierschutzvereinigung fing einen Wolf, der sich auf dem Grundstück eines Bewohners eines rumänischen Dorfes außerhalb zweier nahegelegener Schutzgebiete aufhielt, ohne vorherige Genehmigung ein und transportierte diesen ab. Im Rahmen des Transportes entkam der Wolf. Gegen die Tierschützer wurde Strafanzeige wegen verschiedener Delikte im Zusammenhang mit dem Fang und Transport des Wolfes gestellt.
Der Gerichtshof vertritt die Auffassung, dass der Ausdruck „natürliches Verbreitungsgebiet“ im Bezug auf geschützte Tierarten die – wie der Wolf – Lebensräume beanspruchen, mehr umfasst, als den bloßen geographischen Raum, der die für ihr Leben und ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden physischen und biologischen Elemente aufweist, und somit dem geographischen Raum entspricht, in dem sich die betreffende Tierart im Rahmen ihres natürlichen Verhaltens aufhält bzw. ausbreitet.
Hieraus wird gefolgert, dass ein wildlebendes Exemplar einer geschützten Tierart, dass sich in der Nähe oder innerhalb von menschlichen Siedlungsgebiet befindet, dass solche Gebiete durchquert oder sich von Ressourcen ernährt, die der Mensch erzeugt, nicht als ein Tier angesehen werden kann, dass sein „natürliches Verbreitungsgebiet „verlassen hat.
Der Gerichtshof vertritt die Auffassung, es gehe nicht nur darum, die betreffenden Arten an bestimmten Orten zu schützen, die restriktiv definiert seien, sondern eben auch ihnen angehörende Exemplare zu schützen, die in der Natur bzw. in freier Wildbahn leben und damit eine Funktion in natürlichen Ökosystemen erfüllen. Wölfe würden in zahlreichen Regionen der Union in von Menschen beanspruchten Gebieten leben. Die Anthropisierung dieser Räume führe zu neuen Bedingungen. Daher gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass eine Verpflichtung besteht, die geschützten Tierarten streng zu schützen, was für das gesamte „natürliche Verbreitungsgebiet „dieser Arten gelten würde, unabhängig davon, ob sie sich in ihrem gewöhnlichen Lebensraum in Schutzgebieten oder aber in der Nähe menschlicher Niederlassung befinden würden.
Der Gerichtshof betont dabei, dass Konflikte, bei denen die geschützten Tierart mit Menschen oder ihrem Eigentum in Kontakt tritt, durch die Mitgliedstaaten gemäß Art. 16 Abs. 1b und C der Habitat Richtlinie zu lösen sei: Mitgliedstaatlich seien geeignete Maßnahmen zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen in der Tierhaltung oder Maßnahme im Interesse der Volksgesundheit und der öffentlichen Sicherheit sowie aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses zu treffen.
Der Gerichtshof bestätigt, dass der Fang und der Transport eines Exemplars einer geschützten Art wie des Wolfes nur im Rahmen einer von der zuständigen nationalen Behörde auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b und c der Habitatrichtlinie gewährten Ausnahme, die unter anderem auf die Gründe der öffentlich Sicherheit gestützt ist, erfolgen dürfen. Damit weist er den Mitgliedstaaten die Verantwortung zu, neben der Ausweisung von Schutzgebieten und Lebensräumen eben auch effektive Maßnahmen zur Durchsetzung der Ausnahmeregelungen im Konfliktfall zu schaffen.
Diese EuGH-Entscheidung wird künftig für die Bestimmung der Konflikte zwischen Naturnutzern und Einzelexemplaren besonders geschützter Arten in Deutschland von besonderem Interesse sein. Dabei wird sich insbesondere auch die Frage stellen, wie die nationalen Ausnahmeregelungen gerade auch zum Schutze der öffentlichen Sicherheit sinnvoll und effektiv auszugestalten sind. Die teilweise schlicht fruchtlosen Bemühungen zur Entnahme einzelner Problemtiere und die Auswüchse der medialen Befeuerung dieser Gefahrenabwehrmaßnahmen zeigen in aller Deutlichkeit praktische Defizite auf. Gerade große Prädatoren oder Megaherbivoren werden aber nur dann regionale Akzeptanz erfahren, wenn der gesetzgeberische Rahmen nicht nur den strengen Schutz, sondern auch effektive Regulation zumindest möglich macht.
Ohne ausgestalteten und vollziehbaren (!) Rechtsrahmen wird strenger Schutz allein dem Artenschutz keinen positiven Vorschub leisten, sondern allenfalls unerlaubte Tötungen begünstigen.
Der Gerichtshof der europäischen Union macht auf jeden Fall deutlich, dass guter Wille zum Schutz ohne eine gesetzgeberische Struktur für die Ausnahmen und Konflikte des jeweiligen Mitgliedstaates wohl nicht ausreichend ist.